Die Zeit aushalten
Zu Beginn der Fastenzeit lesen wir in der Kirche folgenden Auszug aus dem Lukasevangelium: „Erfüllt vom Heiligen Geist, kehrte Jesus vom Jordan zurück. Er wurde vom Geist in der Wüste umhergeführt, vierzig Tage lang, und er wurde vom Teufel versucht. In jenen Tagen aß er nichts; als sie aber vorüber waren, hungerte ihn.“ (Lk 4,1-2) In den folgenden Versen beschreibt der Evangelist drei Arten von Versuchungen, denen Jesus ausgesetzt wurde (Siehe Lk 4,3-13).
Als die Schüler im Religionsunterricht dieses Evangelium hörten, waren einige erstaunt und fragten, wie Jesus diese 40 Tage in der Wüste überlebt hatte. Wie konnte er das aushalten? Ja, Jesus hat die 40 Tage in der Wüste ausgehalten - eine Zeit des inneren Kampfes, eine Zeit der Versuchung, eine Zeit, andere Wege einzuschlagen. Aber diese 40 Tage in der Wüste waren nur ein Spiegelbild seines gesamten Lebens. Jesus hat überhaupt die Zeit ausgehalten; er musste oft seine Zeit aushalten.
Für viele von uns ist es eine große Herausforderung, die uns gegebene Zeit auszuhalten. Schon das Warten auf einen verspäteten Zug oder eine verspätete Vorstellung macht manche von uns wütend. Oder Menschen, die jahrzehntelang gearbeitet haben, fällt es schwer, in den Ruhestand zu gehen oder das Rentnerdasein auszuhalten. Manche Frührentner haben das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Für einen Kranken ist es schwierig, nichts zu tun, einfach nur da zu liegen, gefesselt zu sein, nicht das tun zu können, was er will oder die Aussichtslosigkeit der Krankheit auszuhalten. Die Zeit des Alleinseins und des Hoffens auf den Menschen, der mich endlich versteht, vermögen viele nicht auszuhalten. Für uns als Christen scheint es vor allem darum zu gehen, die Zeit auszuhalten.
Die Zeit auszuhalten heißt aber zuerst einmal: sich selbst aushalten. Sich aushalten mit den eigenen Grenzen, mit dem Nichtperfekten an mir, in mir, mit den Fehlern, die ich mache... immer wieder mache, mit den eigenen Schwächen, mit gewissen Lebenssituationen, in die ich geraten bin, die ich mir selbst und die andere mir eingebrockt haben, und den Ärger darüber. Sich selbst aushalten mit den Problemen, die ich habe und die mir immer wieder aufgetischt werden, ohne sie lösen zu können. Sich selber aushalten, das meint aber auch, das Alter und das Altern aushalten, die Vergesslichkeit, die körperlichen Beschränkungen, die schwindenden geistigen Kräfte; die Stille, das Alleinsein.
Die Zeit aushalten heißt auch, auszuhalten, dass es eine Kluft in mir gibt zwischen meinen Idealen und der Wirklichkeit, zwischen meinen Visionen und der Realität, zwischen meinen Wünschen und Vorstellungen, die ich vom Leben hatte und was im Endeffekt wirklich daraus geworden ist. Sich selbst aushalten kann manchmal bedeuten, auf dem Weg zu bleiben, der der einzige Weg ist, etwas in mir zu verändern.
Die Zeit aushalten heißt dann aber auch: die andern auszuhalten. Auszuhalten, dass andere anders denken, empfinden und handeln als ich. Die andern aushalten meint, die Welt auszuhalten mit ihren Krisen, mit ihren Grausamkeiten, mit ihrem unerklärlichen Leid. Es bedeutet, unsere Gesellschaft auszuhalten mit ihren schnellen Veränderungen, mit ihrer Oberflächlichkeit, mit ihrem Desinteresse an Gott und Kirche.
Die andern aushalten bedeutet auch, die Kirche auszuhalten mit den vielen neuen Ansichten für die einen, für die anderen mit ihrer Unbeweglichkeit. Die Kirche auszuhalten heißt, die Menschen mit ihrer Überempfindlichkeit oder manche Christen mit ihrer Halbherzigkeit zu ertragen. Die Zeit aushalten meint auch, die Kirche auszuhalten mit ihren manchmal nur geplapperten Gebeten.
Die Zeit aushalten heißt schließlich auch, Gott auszuhalten. Gott aushalten heißt, der Versuchung zur menschlichen Wichtigtuerei und Besserwisserei zu widerstehen. Gott aushalten heißt, den Gott auszuhalten, der uns im Augenblick die Antwort schuldig bleibt und so viele Fragen einfach stehen lässt, die in unserem Herzen aufkommen. Gott aushalten heißt auch, Zeit vor Gott und für Gott zu haben, selbst wenn wir meinen, so beschäftigt zu sein. Gott aushalten heißt auch, zu Gott zu halten, selbst wenn wir meinen, gegen eine Wand zu reden. Daran glauben, einfach glauben, dass meine Zeit in Gottes Ewigkeit eingebettet ist.
Die Zeit aushalten kann also nicht bedeuten, in die Vergangenheit zu fliehen, die „guten, alten Zeiten” zu beschwören, oder Antworten von gestern auf die Fragen von heute und morgen zu geben. Die Zeit aushalten heißt nicht, die Gegenwart zu beschimpfen. Die Zeit aushalten heißt aber auch, nicht unerfüllbaren Wünschen nachzujagen, sondern Geduld zu haben, auch wenn nicht alles nach unseren Vorstellungen läuft, nicht alle unsere Vorstellungen in Erfüllung gehen.
Die Zeit aushalten können wir nur, wenn wir sicher sind, dass unsere Zeit in seinen, in Gottes Händen liegt.